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Namen im Register
Studentische Lebenslinien am Institut für Kirchenmusik im Spiegel des Matrikelbuchs 1869-1936

Elias Schockel

1. Das Matrikelbuch als Quelle

 

„Adalbert Spiller ist musikalisch höchst unbedeutend und ohne Zeugnis entlassen.“

Dieses ebenso konzise wie vernichtende Urteil findet sich auf der ersten Seite des umfangreichen Matrikelbuchs des Instituts für Kirchenmusik, dessen Laufzeit vom Sommersemester 1869 bis Wintersemester 1935/1936 reicht und das sich heute im Archiv der Universität der Künste Berlin befindet.(1)

Der ohne Abschluss entlassene 23jährige Adalbert Spiller aus Hermannsdorf in Niederschlesien hätte gewiss nicht erwartet, dass ausgerechnet sein Name sich am Anfang einer Arbeit zum 200jährigen Jubiläum des Instituts wiederfinden würde. Er steht exemplarisch für die Lebenslinien vieler heute Vergessener, die zwischen 1869 und 1936 am Kirchenmusik-Institut studiert haben und im Matrikelbuch verzeichnet sind. Ziel dieser Untersuchung ist es, das Matrikelbuch auszuwerten und dabei die Studierenden des Instituts anhand soziologischer Parameter zu betrachten, wie z.B. soziale Herkunft, Religion und Geschlecht. In einem zweiten Schritt seien einige beispielhafte Lebensläufe in Fallstudien nachgezeichnet. 

Der für die Analysen zugrundeliegende Zeitraum umfasst die Laufzeit des Matrikelbuchs, also etwa 65 Jahre.(2) Da am Institut erst ab den 1920er Jahren weitreichende Reformen durchgeführt wurden, umfasst das Buch im Schwerpunkt männliche Studenten, deren Namen für das „lange 19. Jahrhundert“ stehen.(3) Nur für 15 Jahre verzeichnet das Matrikelbuch die Namen derer, die das reformierte Institut besucht haben. Frauennamen sind demnach erst ab 1922 zu finden.

 

2. Die Studierendenzahlen.
Soziologische Betrachtungen zur Statistik

 

2a. Einschreibungszahlen

Mit dem Ableben August Wilhelm Bachs und dem Dienstantritt von Carl August Haupt 1869 scheint der erste Versuch unternommen worden zu sein, das Institut in seinen Verwaltungsstrukturen neu zu ordnen. Erst ab dieser Zeit bediente man sich eines klassischen Kontobuches, um sämtliche Namen der Studierenden, persönliche Informationen wie Geburtsdatum und -ort, aber auch die Konfessionszugehörigkeit zu vermerken. Die Liste, letztlich einer Universitätsmatrikel entsprechend, erwies sich offenbar als äußerst praktikabel - man führte sie Jahrzehnte lang nach demselben Schema weiter, über das Kaiserreich durch die Zeit der Weimarer Republik bis in die 1930er Jahre. Es fehlen allerdings fortlaufende Nummern, die eine gesamtstatistische Erhebung erleichtern würden. Mit jedem Semester begann man erneut mit der Nummer 1, sodass die Personen einzeln gezählt werden mussten: Es handelt sich um 1.542 Studierende im besagten Zeitraum. Im Durchschnitt gab es damit pro Jahr rund 23 Vollstudierende. Statistische Schwankungen sind vor allem in Kriegszeiten zu verzeichnen.

Während des Ersten Weltkriegs sank die Zahl im Schnitt auf weniger als die Hälfte. Der kriegsbedingte ständige Wechsel der Hörerschaft hatte den Studienverlauf selbstverständlich enorm beeinträchtigt. Die meisten Studenten mussten ihrer Wehrpflicht genüge leisten, soweit sie nicht für dienstuntauglich erklärt wurden. Zahlreiche unter ihnen beantragten Urlaub, um ihre Studien fortsetzen zu können. Nur in besonderen Fällen aber wurde dieser genehmigt.(4) Bis 1918 war der schnellste Weg zur Abschlussprüfung daher oberstes Gebot, Langzeitstudenten gab es keine.

 

2b. Hospitanden und Herkünfte

Die Entwicklungsprozesse der 1920er Jahre führten zu keiner weiteren Erhöhung der Personenzahl, zumindest was die Vollstudierenden betrifft. Ein anderer Teil von Personen setzte sich aus sog. „Hospitanden“ zusammen. Mit einer Hospitation war wohl die klassische Gasthörerschaft gemeint. Eine solche eröffnete interessierten Personen die Möglichkeit, an den Vorlesungen und Einheiten nach eigenen Schwerpunktsetzungen teilzunehmen. In der Regel musste man keine Prüfungen ablegen und war auch zeitlich nicht verpflichtet, sämtliche Fächer in ihrer Bandbreite zu hören. Am Institut für Kirchenmusik wurden ab dem Wintersemester 1893/1894 regelmäßig „Hospitanden“ aufgenommen.(5) Nach dieser Zeit waren es stets ca. sechs Personen. 

Seit den 1920ern aber stieg die Zahl rapide an.(6) Im Wintersemester 1926/1927 waren insgesamt 36 Hospitanden eingeschrieben, davon 24 Herren und 12 Damen, sechs davon an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin; einer als Vollstudierender an der akademischen Hochschule für Musik, vier gehörten dem „Lehrgang für Volksmusikschullehrer“ bei der Akademie für Kirchen- und Schulmusik an.(7) Die weiteren 25 Personen nahmen entweder aus reinem Interesse in ihrer Freizeit oder außerhalb ihrer Berufe, für die ein tieferes Verständnis der Kirchenmusik sinnvoll erschien, teil an den Einheiten.

Zu konstatieren ist, dass die Studierenden in ihrer überwiegenden Mehrheit aus Preußen stammten. Soweit sich bei einigen ab den 1920ern entferntere Geburtsorte (wie z.B. St. Petersburg, Bukarest oder Venedig) feststellen lassen,(8) dürfte dies vorrangig mit beruflich bedingten Reisen der ebenfalls preußischen Eltern zusammenhängen. Eine Mehrheit der Studierenden kam aus Berlin und Brandenburg, andere stammten aus den westlichen Teilen Preußens wie dem Rheinland oder der Provinz Hannover. Wiederum andere gaben Geburtsorte aus Ost- und Westpreußen an. Schließlich findet man auch zahlreiche Personen aus Schlesien.(9) Die Statistik zeigt, dass sich das Institut immer mehr zu einem Zentrum für die Kirchenmusik entwickelt hatte, das auf ganz Preußen und darüber hinaus ausstrahlte. Bemerkenswert ist etwa die Einschreibung des in Shanghai geborenen Yao Tschin-schin, der als damals 20-jähriger Student der Hochschule für Musik das Institut als Gasthörer im Wintersemester 1933/1934 besuchte.(10)

 

2c. Der soziale Stand und die Konfession

Um den sozialen Stand der Studierenden auszumachen, sei repräsentativ der Zeitraum vom Sommersemester 1895 bis zum Kriegsjahr Sommersemester 1914 beleuchtet.(11) In diesen knapp 20 Jahren besuchten 401 Studenten das Institut. 354 Personen (also 88,3%) übten den Lehrberuf aus. 47 Studierende (11,7%) verfolgten einen anderen Beruf, z.B. den des Organisten oder Kantors. Außerdem gab es einige wenige Studenten der Philosophie oder Musik, einen Abiturienten und einen Oberprimaner. Schließlich studierten am Institut mehrere „Musikbeflissene“, die z.T. früher Lehrer waren, zum Teil die Kirchenmusik aus reiner Leidenschaft verfolgten. Was die Lehrer angeht, ist zu berücksichtigen, dass man innerhalb der Berufsgruppe unterschiedlich gestellt war. 

Im Hinblick auf das vielschichtige Schulsystem Preußens(12) ist zu differenzieren: In den Listen findet man Präparandenschullehrer, Mittelschullehrer, Hilfslehrer, Seminarlehrer, Schulamtskandidaten, Gesangslehrer am Gymnasium und Privatlehrer. Der soziale Stand hing sicher auch mit der regionalen Herkunft zusammen. Das Schulwesen war im 19. Jahrhundert noch derart unterschiedlich ausgestaltet,(13) dass auch der Bildungsgrad der einzelnen Lehrkräfte in den einzelnen Provinzen unterschiedlich war. Allen war aber gemeinsam, dass man durch das Studium am Institut eine bedeutend höhere Laufbahn als Kirchenmusiker einzuschlagen versuchte.

In den 1920er Jahren stieg die Zahl der Personen mit akademischem Hintergrund an. Gleichzeitig wird die soziale Herkunft diverser, was nicht zuletzt durch die „Hospitanden“ bedingt war.

Im untersuchten Zeitraum war die Mehrheit von 298 Personen evangelischer Konfession, 74,3%. Da die Personen für gewöhnlich aus dem protestantisch geprägten Preußen stammten, ist dies ein zu erwartender Wert. Katholisch waren etwa 23,2%, zum Großteil (Ober-)Schlesier, aber auch Rheinländer. Die restlichen 2,5% waren nicht zu ermitteln bzw. gehörten einer anderen Konfession an (1x Herrnhuter Brüdergemeine, 2x reformiert).

 

3. Die Studierenden: Exemplarische Lebenslinien

 

Um die individuellen Lebenswege der Studierenden des Instituts für Kirchenmusik im 19. und 20. Jahrhundert besser zu verstehen, sollen nun sechs Biographien beispielhaft beleuchtet werden.

 

3.1. Adalbert Spiller

Am Anfang der biografischen Beschreibungen soll der seinerzeit als „völlig ungeeignet“ eingestufte Adalbert Spiller stehen, der nach seinem erfolglosen Studium am Institut für Kirchenmusik als Komponist im populären Genre hervortrat. Geboren wurde er am 10. November 1846 in Hermannsdorf, Krs. Jauer in Niederschlesien. Vermutlich war sein Vater Lehrer von Beruf.(14) Als der 22-Jährige im Sommersemester 1869 sein Studium am Institut beginnen wollte, hatte Carl August Haupt seinen Posten als Institutsdirektor gerade angetreten. Haupts Fokus lag auf dem Orgelspiel, einer Ausweitung der Vokalmusik am Institut stand er eher feindlich gegenüber.(15) 

Betrachtet man das spätere kompositorische Werk Spillers, so stellt man fest, dass er vor allem als Opern- und Liedkomponist reüssierte.(16) Es liegt demnach nahe, dass Spillers Kompetenz zu Anfang seines Studiums nur an seiner Qualität als Organist bemessen wurde, während man seine Begabung in anderen musikalischen Bereichen außer acht ließ. Dafür spricht auch, dass er das Institut aufgrund der schlechten Beurteilung nach kurzer Zeit verlassen musste. 

Am 02. Dezember 1876 eröffnete in Siegburg in Nordrhein-Westfalen ein neues kgl. katholisches Schullehrerseminar.(17) Ab dem Jahr 1879, 10 Jahre nach seiner Berliner Zeit, ist Adalbert Spiller dort als Musiklehrer verzeichnet. Hier fand er nebenher Zeit, Auftragswerke für Theateraufführungen zu übernehmen und eigene Kompositionen zu schreiben. Aus einer Werbeannonce der „Neuen Musik-Zeitung“ von 1891 geht hervor, dass seine Vertonungen der Dichterin Else Gehrke („Liebesfrühling“, „Ach süßer Schatz, wie bist du hold“) größere Verbreitung fanden.(18) In den 1890ern veröffentlichte er weitere Lieder, deren Libretti von Marie Spiller stammten, die vermutlich seine Ehefrau war.(19) In den letzten Lebensjahren schrieb er mehrere großformatige Opern und Singspiele, so etwa Olympia, Arnelda, Dobra Juan, sowie einige weitere Stücke für Hörner oder Piano.  Heute erinnert ein kurzer katalanischer Wikipedia-Eintrag an ihn.(20) In Riemanns Musiklexikon von 1922 ist ihm ein Eintrag gewidmet, dort wird anerkennend erwähnt: „Besuchte das kgl. Institut für Kirchenmusik.“ Er verstarb am 05.03.1904 in Siegburg a. Rhein.(21)

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3. 2. Emil Dercks

 

Traugott Richard Emil Dercks wurde am 17. Oktober 1849 in Donnerau, Krs. Waldenburg in Niederschlesien geboren und evangelisch getauft. Wie sein Vater Karl Eduard ergriff Emil Dercks den Beruf des Schullehrers, zunächst in der oberschlesischen Kleinstadt Kreuzburg.(22) Sein Lebensweg ist exemplarisch für die große Gruppe von Studenten im 19. Jahrhundert, die ebenfalls diesem Stand zugehörten und das Studium der Kirchenmusik als Möglichkeit zum sozialen Aufstieg ansahen. So ist bei Emil Dercks zu beobachten, dass dieser gezielt auf das Ende seines Lehramtsstudiums in den Jahren 1876/1877(23) hinarbeitet, um danach ein Kirchenmusiker zu werden. Emil Dercks scheint mit seinem ersten Beruf als Lehrer einen soliden Grundstein für die Bewerbung am Institut gelegt zu haben. Er wurde sofort aufgenommen und absolvierte das Studium mit Bravour. Nach Beendigung seiner Studien in Berlin wurde er Organist an der Marienkirche zu Köslin in Westpommern.(24) Noch während seiner Zeit als Lehrer in Kreuzburg hatte er die Tochter des dortigen Kanzleirats und Kommunalpolitikers Franz Welczek kennengelernt, die er nach abgeschlossenem Studium am 03. Oktober 1878 als ausgebildeter Kirchenmusiker heiratete.(25) In Köslin gründete er einen Oratorien- und Konzertverein. 1896 ging er mit seiner Familie nach Breslau, wo er als Oberorganist der „Elftausend Jungfrauen-Kirche“ eine exponierte Position für die Kirchenmusik Schlesiens innehatte.(26) Im Jahr 1893 wurde er Königlicher Musikdirektor und starb am 05. November 1911 in Breslau. Von seinen Kompositionen haben sich verschiedene Werke erhalten.

3.3. Arnold Mendelssohn

Geboren wurde Arnold Ludwig Mendelssohn am 26. Dezember 1855 in Ratibor, Oberschlesien, wo sein Vater Wilhelm als Maschinenmeister der „Wilhelmsbahn“ arbeitete.(27) Seine Mutter Louisa Aimée war die Tochter des Pädagogen Dr. Ludwig Cauer.(28) Der junge Arnold Mendelssohn wuchs in einer Welt auf, in der Bildung, stets mit dem Ideal der Aufklärung verbunden, einen hohen Stellenwert einnahm. Eine Zäsur bedeutete das Jahr 1866. Kurz nach dem Deutsch-Österreichischen Krieg starb der Vater, der sich zuvor freiwillig im Lazarett um Verwundete gekümmert hatte, an einer Cholera-Infektion. Nach den Gymnasialbesuchen in Ratibor, Berlin und Danzig sollte Arnold Mendelssohn auf Drängen seiner Mutter nicht die musikalische Laufbahn einschlagen, sondern Jurist werden. Wenig später brach er sein Studium in Tübingen ab. Mit den „angepaßten Lebensplänen der gegenwärtigen Konventionen“, ein „ordentlicher Mensch“ zu werden, konnte er sich nach eigenem Bekenntnis nicht anfreunden.(29) Vielmehr zog der 20-jährige wieder in die Hauptstadt und besuchte ab dem Wintersemester 1876 das Institut für Kirchenmusik. 

Seine Biografie zeigt exemplarisch auf, dass auch Personen des höheren Bildungsbürgertums das Institut besuchten (auch wenn Mendelssohn damit nicht zur Mehrheit gehörte). Das Institut bot die Möglichkeit, talentierte Musiker verschiedenster Herkunft umfassend zu schulen. Arnold Mendelssohn ebnete sich auf diese Weise seine weitere Karriere auch als Komponist, hatte doch die Einrichtung inzwischen einen weit über die Grenzen Berlins hinaus exzellenten Ruf. Zudem immatrikulierte er sich an der akademischen Hochschule für Musik (1876-1880) u.a. bei Eduard Grell und Wilhelm Taubert. Nach Abschluss seiner Studien erhielt Mendelssohn seine erste Stelle als Chordirektor und Organist in Bonn, an der heutigen Kreuzkirche am Kaiserplatz.(30) Es folgten Aufenthalte ab 1883 in Bielefeld und ab 1886 am Kölner Konservatorium als Lehrer für Orgel und Komposition. Hier entwickelten sich intensive Freundschaften u.a. zu Engelbert Humperdinck und Hugo Wolf, der Mendelssohn zu eigenen Liedkompositionen anregte.(31)

Als Mendelssohn 1891 zum Kirchenmusikmeister nach Darmstadt berufen wurde, eröffnete sich für den 35-jährigen die Möglichkeit, auf vielfältigste Weise künstlerisch tätig zu werden. Bis zu seinem Tod wirkte er in diesem repräsentativen Amt und komponierte mehrere Opern, Sinfonien sowie Lieder. Die geistliche Chor- und Kirchenmusik bildete durchweg den Schwerpunkt seines Schaffens, die frühen Studienjahre in Berlin können durchaus als Kern seiner späteren Entwicklung betrachtet werden. Eine besondere musikalische Freundschaft verband ihn mit dem damaligen Thomaskantor Karl Straube.(32) Nicht zuletzt deshalb wurde Arnold Mendelssohn im Zuge der 1920er und 30er Jahre zum Vorreiter der kirchenmusikalischen Erneuerungsbewegung.(33) Zahlreiche Ehrenbürgerschaften und -doktorwürden unterstreichen seine Bedeutung. Als am 11. August 1923, dem Jahrestag der Weimarer Reichsverfassung, zum ersten Mal der Georg-Büchner-Preis verliehen wurde, gehörte Arnold Mendelssohn zusammen mit Adam Karillon zu den Geehrten. Im Stadtarchiv Darmstadt hat sich seine Verleihungsurkunde erhalten. Am 19. Februar 1933 starb Arnold Mendelssohn in Darmstadt.(34) Sein Grab befindet sich noch heute auf dem Bessunger Friedhof.

3. 4. Walter Fischer

Heinrich Wilhelm Walter Fischer wurde am 10. Juli 1872 in Saybusch in Galizien geboren. Er besuchte zunächst die Mittelschule in Schweidnitz, dann von 1889-1892 das Seminar in Bunzlau, wo er die erste Lehrer-Prüfung ablegte. Es folgte seine Wehrpflicht als Infanterist in Neisse (Oberschlesien), bevor er seine erste Stelle in dem kleinen Dorf Roschkowitz, Krs. Kreuzburg in Oberschlesien antrat.(35) Nach bestandener zweiter Lehrer-Prüfung studierte er zwischen 1895 und 1896 am Institut für Kirchenmusik u.a. bei Carl Thiel, Robert Radecke und Heinrich Reimann. Danach nahm er drei Jahre Privatunterricht bei letztgenanntem (Orgel) sowie bei Prof. A. Löschhorn (Klavier). Kurz nach Beendigung seiner Studien am Institut hatte Fischer eine städtische Lehrstelle angetreten und war seit dieser Zeit auch Gesangslehrer am Fichte-Gymnasium in Berlin-Wilmersdorf. Von 1900 bis 1907 war er Organist an der Neuen Evangelischen Garnisonkirche, wo er sich besonders um die Wiederaufführung der Orgelmusik Max Regers verdient machte. 1908 wurde er Organist an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche.(36)

Während des Ersten Weltkriegs, im Jahr 1916, war der bekannte Organist und Komponist Bernhard Irrgang verstorben, wodurch auch seine außerordentliche Lehrstelle an der Hochschule für Musik frei wurde. Das Direktorium entschied, den damals 44-jährigen Fischer zu besetzen.  Ab Juni 1917 trat Fischer diese Stelle an, mit der Verpflichtung, maximal 10 Stunden wöchentlich zu lehren - bei einem Jahresgehalt von 1850 Mark. Gleichzeitig folgte er einem Ruf als Organist an den Berliner Dom in Mitte. Diese repräsentativen Ämter schützten Fischer davor, noch im letzten Kriegsjahr einberufen zu werden. Er hatte diesbezüglich auch ein Bittgesuch an die Hochschule verfasst, dem stattgegeben worden war.(37)

Ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre beantragte Fischer auf Anraten seines Arztes in regelmäßigen Abständen Befreiung vom Unterricht, um sich auf verschiedenen Kuren von seinen Lungenleiden zu erholen. Die Arbeit mit den Studierenden am Institut für Kirchenmusik scheint ihm aber besondere Freude bereitet zu haben. So schrieb er dem Direktor 1927 aus St. Blasien, er wolle schneller als geplant an die Hochschule zurückkehren, den „anstrengenden Schuldienst im Gymnasium“ aber erst nach Ostern wieder aufnehmen.(38) An der Hochschule setzte er sich bis zuletzt für einen stärkeren Fokus auf die Teilbereiche Improvisation und liturgisches Orgelspiel ein. Er argumentierte 1927, es sei für ihn „eine große Schwierigkeit, […] in einer Stunde regelmäßig alle […] Anforderungen: Literaturspiel, Improvisation, liturgisches Orgelspiel u. Choralstunde durchzumachen“. Daher forderte er mehr Zeit für den Einzelunterricht. Die Hochschule kam seinen Bedenken jedoch aus finanziellen Gründen nicht nach. Man wollte die fehlende Zeit vielmehr als milderndes Kriterium bei der Prüfung berücksichtigen. Ab 1928 verschlimmerte sich Fischers Gesundheitszustand(39) zusehends, weshalb er erneut seine Lehrtätigkeit aussetzen musste. Vertretungsweise übernahmen andere seine Lehrstunden. Er bat an verschiedenen Stellen um finanzielle Unterstützung, die ihm manchmal auch gewährt wurde. Die zahlreichen Fehltage und -monate bereiteten der Hochschulleitung in ihrer Organisation derartige Schwierigkeiten, dass man sich am 24. Juni 1931 genötigt sah, den Dienstvertrag zum 31. Dezember 1931 aufzulösen. Walter Fischer war hierüber sehr unglücklich, hoffte er doch bis zuletzt, bald wieder zu genesen und sein Amt voll ausfüllen zu können. Am 17. Juli 1931 starb Walter Fischer im Alter von 59 Jahren in Berlin-Wilmersdorf. Er hinterließ seine Witwe und vier Kinder. Im Berliner Dom hielt man ihm zu Ehren am 17. September 1931, musikalisch begleitet vom Staats- und Domchor, eine Gedächtnisfeier ab. An der Orgel spielte seine Tochter Susanne. Die Leitung übernahm Hugo Rüdel.(40)

3.5. Agathe von Tiedemann

 

Abschließend soll der Bogen bis in die Zeit der Weimarer Republik gespannt werden. Ab 1922 findet man die ersten Studentinnen am Institut, zunächst allein bei den „Hospitanden“. An dieser Stelle soll eine der ersten Gasthörerinnen im Mittelpunkt stehen, die zeitlebens im musikalischen Bereich aktiv bleiben sollte: Agathe von Tiedemann, die spätere Assistentin von Wilhelm Furtwängler.

Geboren wurde Agathe Ottonie Erdmuthe von Tiedemann am 04. April 1901 in Zigankenberg, einer Vorstadt von Danzig.(41) Ihr Vater Rüdiger war Offizier, Hauptmann im 1. Hannoverschen Infanterie-Rgt. Nr. 74, ihre Mutter Emmy geb. Fretwell Tochter eines englischen Gelehrten und Schriftstellers, John Fretwell.(42) Beide Elternteile waren evangelisch.

Agathe von Tiedemann wuchs in Danzig auf, wo sie die höhere Töchterschule besuchte. Danach lebte sie in Wiesbaden. Sie schloß auf dem Mädchengymnasium ab, schlug eine musikalische Laufbahn ein und studierte an den Konservatorien in Danzig, Wiesbaden und Paris. Ihre letzte Station war das Musik-Institut in Stockholm, wo sie moderne Lehrmethoden kennenlernte, die für ihre spätere Tätigkeit relevant sein sollten. Im Winterhalbjahr 1923 hatte sie zu den Gasthörerinnen am Institut für Kirchenmusik gehört und findet sich entsprechend im Matrikelbuch wieder.

Nach Beendigung ihrer Studien arbeitete sie zunächst als freie Pianistin in Berlin-Charlottenburg. Ab dem 01. April 1937 organisierte sie unter dem Dach der Reichsmusikkammer Nachwuchskonzerte, eine Tätigkeit, die sie ein Jahr später wegen gesundheitlicher Überlastung wieder einstellen musste. Anschließend nahm sie eine Tätigkeit als Dozentin für „Gruppenunterricht auf dem Klavier nach schwedischem System“ auf. Auch diese Tätigkeit beendete sie am 01. Januar 1940. Nach derzeitigem Kenntnisstand gehörte Agathe von Tiedemann zwar der „NS-Volkswohlfahrt“, nicht aber der NSDAP an.(43)

Bereits 1935 hatte Agathe von Tiedemann einen Verein gegründet, der das Ziel verfolgte, zeitgenössische Musik zu fördern. Die „Gemeinschaft junger Musiker“ war 1939 auf mehr als 300 Mitglieder angewachsen. Ein erklärter Schwerpunkt war es, bisher unbekannte Werke zur Uraufführung zu bringen.(44)

Ein Karrieresprung für die damals etwa 30-Jährige bedeutete ihr Wechsel zu Wilhelm Furtwängler, dessen persönliche Assistentin und Sekretärin sie 1940 wurde, zunächst in Berlin,(45) dann, bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, in Wien.(46) Neben ihrer Tätigkeit als Konzert- und Veranstaltungsorganisatorin war sie auch in Angelegenheiten involviert, die nur mittelbar etwas mit ihrer beruflichen Aufgabe als Sekretärin zu tun hatten. So soll sie auch Hilfsaktionen für jüdische Musikerinnen und Musiker mit organisiert haben.(47) Möglich war dies nur auf der Basis eines gegenseitigen Vertrauens zwischen ihr und Furtwängler. Agathe von Tiedemann gehörte zu den Personen, die sich nach dem Krieg vehement für die Entnazifizierung und Rehabilitierung Furtwänglers aussprachen.(48) Furtwänglers ambivalente Rolle wird bis heute bekanntlich viel diskutiert. Nach Aussage von Agathe von Tiedemann soll er über 100 Menschen jüdischen Glaubens vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten geschützt haben, in Berlin unterstützt durch seine Sekretärin Freda Winkelmann, geb. von Rechenberg, in Wien durch Agathe von Tiedemann selbst.(49) Beide Frauen hatten in der Zeit des Nationalsozialismus allerdings auch selber einflussreiche Stellen im Machtapparat des Regimes besetzt. Ihre Objektivität ist also zumindest zweifelhaft. So war Tiedemann bis 1945 Leiterin der Dienststelle in der Reichsstatthalterei, die für die Wiener Philharmoniker und ihre Freistellung vom Wehrdienst zuständig war.(50)

In der Nachkriegszeit zog Agathe von Tiedemann nach München in die Konradstraße 12 und ging wieder ihrer Berufung als Pianistin nach.(51) 1961, ein Jahr vor ihrem Tod, findet man sie im Adressbuch der Stadt als Musikberaterin verzeichnet, wohnhaft in einer der Prachtstraßen Münchens, der Maximilianstraße Nr. 56.(52) Sie starb 1962 im Alter von 61 Jahren.(53)

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4. Ausblick

 

Zahlreiche Studierende, die das Berliner Institut für Kirchenmusik besuchten, gaben ihren Schülerinnen und Schülern weiter, was ihnen zu Beginn ihrer musikalischen Laufbahn zuteil wurde. Hierzu zählt nicht nur das reine musikalische Wissen und die Kunstfertigkeit, sondern auch ein historisches Bewusstsein für den sozialen und künstlerischen Kontext des Hauses. Die konkreten Menschen in historischen Situationen, die spezifischen Lebensläufe der Lehrenden und Studierenden verleihen einem solchen Institut erst seinen ganz eigenen Charakter. In diesem Sinne: Ad multos annos!​

5. Endnoten

1 -  Matrikelbuch Institut für Kirchenmusik UdK-Archiv (HdK-Archiv; Bestand 2, Nr. 252 [im folgenden: „Matrikelbuch“].

2 -  SoSe 1869 bis WiSe 1935/1936.

3 -  Begriff vgl. Hobsbawm, S. 15 ff. der darzustellen versucht, dass die alte preußische Zeit bis weit über das Jahr 1900 wirksam war, mindestens bis zum Ersten Weltkrieg. Zu den Reformen des Instituts vgl. den Aufsatz von Schenk in diesem Band.

4 -  vgl. Matrikelbuch S. 60. So beantragten die Lehrer Janecke, Lux, Miesner und Runge ihren Urlaub, der keinem bewilligt wurde. Hingegen konnten die „Eleven v. Helden und Rüdel ihr Studium bis auf Weiteres wieder aufnehmen“.

5 -  vgl. Matrikelbuch S. 27: Kessler und Goldberg waren ab WiSe 1893/1894 die ersten für eine konstant einsetzende Entwicklung. Jedoch gab es vereinzelt auch schon zuvor Gasthörer, wie zB ab Sommersemester 1877 Emil Draeger (Matrikelbuch S. 11).

6 -  So waren es laut Matrikelbuch S. 74 ff. im SoSe 1920: 12, im WiSe 1920/21: 17 Personen; ab dem SoSe 1921 waren es immer ca. 20; ab SoSe 1923: 31 Personen (davon 18 Herren, 13 Damen); WiSe 1923: 38 (24 männlich, 14 weiblich).

7 -  Diese Informationen lassen sich einer Randnotiz zum WiSe 1926/1927 des Matrikelbuchs S. 98 zu entnehmen.

8 -  vgl. Matrikelbuch S. 80, 111, 115 (in der Reihenfolge der genannten Orte). Auch die „Hospitanden“ sind hier berücksichtigt.

9 -  Berücksichtigung fanden für diese Zusammenfassung der gesamte Zeitraum des Matrikelbuches.

10 - Matrikelbuch S. 134. Der Verbleib Yao Tschin-schins konnte nicht festgestellt werden.

11 - Alle folgenden Erhebungen siehe Matrikelbuch S. 29 ff.

12 - Edelstein, Benjamin und Veith, Hermann: „Schulgeschichte bis 1945: Von Preußen bis zum Dritten Reich“, unter: https://www.bpb.de/themen/bildung/dossier-bildung/229629/schulgeschichte-bis-1945-von-preussen-bis-zum-dritten-reich/ (abgerufen am 12. Mai 2022).

13 - vgl. Wiese Vorwort S. IV.

14 - So findet sich bei Mehwald S. 46. und beim Kgl. Ober-Präsidial-Bureau S. 102, 180 ein „Dr. Spiller, Gymnasiallehrer“.

15 - Für das Orgelspiel waren wöchentlich 14, für den Gesang 2 Stunden angesetzt. Kritiker waren v.a. Wilhelm Taubert und Joseph Joachim (siehe Schipke S. 24 ff.).

16 - Einstein S. 1224; siehe auch die Hinweise in den Fußnoten 18 f.

17 - vgl. Amtliche Statistik S. 171.

18 - Annonce „Reizendes Geschenk für junge Frauen“ in Beilage zu Nr. 11 „Neue Musik-Zeitung“; Jg. XII Stuttgart-Leipzig 1891.

19 - Spiller „Es war ein Traum; Lied für eine Klavierstimme“.

20 - Zum katalanischen Eintrag „Adalbert Spiller“ in: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie, unter: https://ca.wikipedia.org/wiki/Adalbert_Spiller (abgerufen am 12. Mai 2022)

21 - Einstein S. 1224.

22 - Schreiben des Magistrats d. Stadt Kreuzburg, 04.12.1875, worin Dercks als Lehrer erwähnt wird. Staatsarchiv Opole (Polen) 45/13/64 „Acta Volkszählung Kreuzburg Vol. V 1864-1882“

23 - vgl. Matrikelbuch S. 11.

24 - So auch anerkennend bei Einstein S. 279 erwähnt.

25 - Standesamtliche Heiratsurkunde Kreuzburg O.S. (Kluczbork); Jg. 1878, Nr. 27.

26 - Auf verschiedenen Gebieten der Kirchenmusik war er aktiv, so z.B. als Dirigent 

27 - Wilhelm (geb. 1821) war noch Enkel des Philosophen Moses Mendelssohn. Zu seiner Familie und weiteren Informationen freundliche Auskunft von Dr. Sebastian Panwitz und Website dess.: „Wilhelm Mendelssohn“, unter: http://www.panwitz.net/person/mendel/wilhelm.htm (abgerufen am 12. Mai 2022).

28 - Aretin - Böhme S. 60 f.

29 - Böhme S. 35.

30 - Matrikelbuch - Notiz im SoSe 1878; Besonders verdient machte er sich dort v.a. um die Wiederaufführung der Chormusik alter Meister, namentlich von Heinrich Schütz und Joh. Seb. Bach (Böhme S. 63).

31 - Panwitz, Sebastian: „Arnold Mendelssohn“, unter: http://www.panwitz.net/person/mendel/arnold2.htm (abgerufen am 12. Mai 2022).

32 - Straube, Gurlitt S. 52, 59, 86.

33 - Aretin - Böhme S. 60 f.. Zu seinen Schülern zählten „Kurt Thomas, Günter Raphael, Heinrich Spitta, Günter Ramin“ „[iwS aber auch] Hugo Distler und [als Schüler in Komposition] Paul Hindemith“.

34 - Aretin - Böhme S. 60 f..

35 - Sämtliche Informationen lassen sich der „Personalakte Walter Fischer“ entnehmen. (UdK Archiv 1-51 [im folgenden „Personalakte WF“].

36 - Dt. Reichsanzeiger „Theater und Musik“, 13. Juli 1917, Jg. 164.

37 - UdK Archiv 1-51 (Personalakte WF).

38 - Brief an den Direktor aus St. Blasien 1927 Personalakte WF.

39 - Er litt an Diabetes und Lungentuberkulose.

40 - Bekanntmachung zur Gedenkfeier Walter Fischer am 17.09.1931, Berlin.

41 - Standesamtliche Geburtsurkunde Zigankenberg (Suchanino); Jg. 1901, Nr. 103; zu

42 - Bundesarchiv Zweigstelle Berlin Lichterfelde Sign. R 9361-V/83693; Personenbezogene Unterlagen der Reichskulturkammer zu Agathe v. Tiedemann [im weiteren Verlauf zit. unter „Tiedemann RKK“].

43 - So ließ sich im Archiv des Berlin Document Center im Bundesarchiv Berlin keine Parteikartei zu ihr finden. Zudem findet sich der Hinweis in Tiedemann RKK, dass sie 1938 nicht NSDAP-, aber NSV-Mitglied war.

44 - vgl. Friedel S. 202; Inwieweit der Verein politisch eingebunden war, lässt sich nach jetzigem Forschungsstand nicht nachvollziehen.

45 - Kier S. 668.

46 -Shirakawa S. 256

47 - dies. Dies betrifft v.a. die Bestrebung Furtwänglers, Menschen jüdischen Glaubens zu helfen. Siehe unten im Fließtext.

48 - Zu diesem Ergebnis gelangt Lang in seinem Werk (siehe Literaturverzeichnis), welches anschaulich vor Augen führt, in welchem Verhältnis Furtwängler und Tiedemann zueinander standen. Tiedemann war nicht die einzige, die sich für Furtwänglers vollständige Rehabilitierung einsetzte; andere waren z.B. Curt Riess oder Yehudi Menuhin.

49 - Shirakawa S. 256 ff.

50 - Kier S. 668.

51 -  Landeshauptstadt München: Stadtadressbuch 1953, S. 877 „Tiedemann“.

52 - Landeshauptstadt München: Stadtadressbuch 1961, S. 952 „Tiedemann“

53 - Familienarchiv v. Tiedemann - Staatsarchiv Hessen-Darmstadt.

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