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Hermann Max (Dirigent) 
im Gespräch mit Kai-Uwe Jirka
über seine Zeit am Institut für Kirchenmusik Berlin
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Christoph Wolff
(Musikwissenschaftler, Harvard University)
über seine Zeit als Student
am Institut für Kirchenmusik Berlin
(Protokoll eines Gespräch mit Kai-Uwe Jirka, geführt im Herbst 2021)

Jirka: Ich freue mich, dass wir heute über Ihre Zeit am Kirchenmusikinstitut sprechen können.

Wolff: Ja, das ist lange, lange her, aber es war für mich eine sehr wichtige Zeit.

Jirka: Wann war das genau?

Wolff: Das war genau von Ostern 1960 bis Juli 1963, also knapp dreieinhalb Jahre. Ich habe damals A-Prüfung gemacht.

Jirka: Wie sind Ihre Erinnerungen: An die Lehrenden, an den Unterrichtsstil, an die Kommilitoninnen und Kommilitonen?

Wolff: Da gibt es natürlich sehr viel zu berichten, mit den heutigen Zuständen ist das natürlich überhaupt nicht zu vergleichen. Ich habe 15 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs zu studieren begonnen. Alles war kaputt, die Ausstattung des Institut kann man nicht vergleichen mit dem, was dort heute vorhanden ist. Es gab meiner Erinnerung nach nur zwei erhaltene, einigermaßen spielbare Orgeln im Gebäude. Zum Ende des ersten Studienjahres, im Sommer 1960 wurde die große Orgel in der Aula gebaut. Und dann hatten wir noch im Hauptgebäude Fasanenstraße zwei Orgeln, davon eine im Konzertsaal.

Jirka: Die ist jetzt meines Wissens gar nicht mehr in Betrieb. Es gab immer mal wieder Projekte, diese Konzertsaalorgel zu einer großen symphonischen Orgel auszubauen, aber diese Pläne haben sich zerschlagen.

Wolff: Ah ja. Damals war es so, dass die Berliner Philharmoniker in dem Konzertsaal probten, unter Karajan. Die Philharmonie war ja noch nicht fertig gebaut. Die probten dort eigentlich jeden Morgen. Unsere Übezeiten waren dadurch sehr knapp. Aber durch diese Nähe mit den Philharmonikern gab es da auch Kontakte, man ist sich begegnet im Flur. Es war ein sehr lebendiges Miteinander in der Hochschule. Der Personalbetrieb war natürlich auch noch sehr überschaubar, überhaupt nicht vergleichbar mit der UdK heute. Es handelte sich ja nur um eine Musikhochschule, die Zahl der Studenten war klein, vor allem in der Kirchenmusik. Und wir hatten ein gutes Verhältnis zu den Schulmusikern, aber auch zu den Orchestermusikern. Einer meiner besten Freunde war Oboist. Und auf diese Weise hatte ich die Möglichkeit, die Proben von Karajan zu hören.

Jirka: Die waren frei zugänglich, da konnte man einfach hospitieren?

Wolff: Die waren frei zugänglich bis zu meinem letzten Semester. Dann gab es einen Moment, wo Karajan einen Hornisten eine Stelle dreimal hat wiederholen lassen. Das ist mir noch sehr gut in Erinnerung. Als der Hornist das dritte Mal versagt hatte, beschlossen sie, die Studenten und die Öffentlichkeit von der Probe auszuschließen. Einige der Philharmoniker waren schließlich auch Professoren, die hatten eine Doppelfunktion, das war zu peinlich, wenn sie vor den Studenten versagten.

Jirka: Und welche Erinnerungen haben Sie an den Unterricht hier im Kirchenmusikinstitut? Hermann Marx sagte, von der historischen Aufführungspraxis sei noch noch gar nichts zu merken gewesen. Welche Traditionslinien haben Sie damals wahrgenommen?

Wolff: Ich habe wahrgenommen, dass die Traditionen, die in der Hochschule bestanden, noch aus der Zeit Paul Hindemiths stammten. Hindemith hat zwar auch mit historischen Instrumenten gearbeitet, man hat sie unter seiner Leitung aber genauso behandelt wie moderne Instrumente. Die historische Aufführungspraxis, wie wir sie heute verstehen, war natürlich noch gar nicht vorhanden. 

Jirka: Hat man innerhalb der Hochschule etwas von dem gesellschaftlichen Aufbruch der 60er Jahre gespürt oder hatte sie eher den Charakter eines abgeschlossenen Ortes?

Wolff: Ich war ja in Berlin zu der Zeit, bevor die Mauer gebaut wurde. Wir fingen an im Sommersemester 1960, etwa die Hälfte der Studenten wohnte damals in Ostberlin, bzw. in der DDR. Im August 1961, als die Mauer gebaut wurde, waren die plötzlich nicht mehr da. Wir hatten es natürlich als Westberliner schwer. Aber als Westdeutsche konnten wir nach Ostberlin reisen und uns da unsere Noten besorgen, für wenig Geld. Dort haben wir auch unsere ehemaligen Kommilitonen besucht. Ich weiß, dass einer von uns mal ein Cembalo in Ostberlin gekauft und es in der S-Bahn transportiert hat. Wir haben es hochkant gehalten und als Harfe deklariert. Der Bahnbeamte konnte das nicht unterscheiden.

Jirka: Und was geschah mit den Studierenden aus Ostberlin? Die konnten ja ihr Studium nicht mehr fortsetzen.

Wolff: Ich weiß es nicht mehr genau, aber die meisten haben hier Studium wohl in Halle beendet. Der kalte Krieg hat dann dazu geführt, dass man sich aus den Augen verloren hat. Diese Situation war uns sehr bewusst, wir haben die unterschiedlichen Lebensverhältnisse zwischen Ost und West wirklich kennengelernt, das hat uns viel bedeutet. 

Jirka: Haben Sie als Student damals von der Kirchenmusikszene in Ost- und Westberlin viel mitbekommen?

Wolff: Ich hatte guten Kontakt zur Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Die Kirche war ja ganz neu und bekam damals eine große Orgel. Ich hatte ja Orgelunterricht bei Michael Schneider. Er war mit Abstand der bedeutendste Lehrer, den ich in Berlin hatte, ein Schüler von Karl Straube. Und das hat eine große Rolle gespielt. Denn er hat sich im Unterricht immer auf seinen eigenen Lehrer berufen.

Jirka: Können Sie sich erinnern, wie es im Chorleitungsbereich war? 

Wolff: Unser Chorleitungslehrer war ein Herr Jacobi, ich weiß nicht mehr, wie er mit Vornamen hieß. Aber er hatte seine Erfahrungen wohl vor allem im Opernchor gesammelt. Gottfried Grote unterrichtete uns im Partiturspiel, von ihm habe ich einiges gelernt. Ich war aber kein Chorleitungsstudent. 

Jirka: Und spielte die Orchesterleitung schon eine Rolle?

Wolff: Immer nur mit zwei Klavieren. Wir haben abwechselnd Oratorien gespielt, Haydns Schöpfung, Die Jahreszeiten, die Bachschen Oratorien, Mozart und Brahms. Das Repertoire war relativ schmal. Mendelssohn spielte gar keine Rolle, obwohl wir das wollten. Aber dieser Jacobi wollte mit Mendelssohn nicht zu tun haben. Aus dem 20. Jahrhundert kamen nur Komponisten wie Hugo Distler vor, ganz neue Komponisten haben wir gar nicht gemacht, obwohl wir Kontrapunkt-Unterricht bei Ernst Pepping hatten. Er war ja damals in Spandau tätig, aber er gab auch Kontrapunkt-Unterricht an der Hochschule.

Jirka: Erinnern Sie sich an prägende Frauen und an Kirchenmusikerinnen, denen Sie während Ihres Studiums begegnet sind?

Wolff: Ja natürlich! Ich habe zum Beispiel meine eigene Frau hier am Institut kennengelernt. Barbara kam aus Hannover, sie hatte vorher in Freiburg die B-Prüfung gemacht und kam nach Berlin, um die A-Prüfung abzulegen. Das haben wir dann gemeinsam gemacht. Dann erinnere ich mich auch an Adelheid Wolf, die später Kirchenmusikdirektorin in Paderborn wurde. Und dann gab es noch Ute Erhard, sie kam aus Ostberlin und hat später den Schriftsteller Günter Grass geheiratet. 

Jirka: Wie stand es mit den konfessionellen Unterschieden? Gab es einen Geist der Ökumene?

Wolff: Nein, den gab es eher nicht. Wir hatten bei Joseph Ahrens Improvisationsunterricht, der sehr darauf bedacht war, Katholiken und Lutheraner auseinander zu halten. Es gab eine offizielle Trennwand, die von der älteren Generation nicht bewusst abgebaut wurde. 

Jirka: Wie sah der Lehrplan im Vergleich zu heute aus?

Wolff: Ich weiß nicht, wie genau der Studenplan heute aussieht. Wir hatten neben den Hauptfächern auch Orgelbau damals. Das war ganz gut, da haben wir gelernt, wie man eine Orgel reparieren kann. Dabei haben wir auch verschiedene Exkursionen unternommen, zu alten Landorgeln. Aber es waren nur kleine Exkursionen, in die DDR konnten wir ja später nicht mehr.

Jirka: Können Sie etwas sagen zum pädagogischen Stil?

Wolff: Das war richtiger Frontalunterricht. Vorne am Pult saß der Chef, man traute sich kaum eine Frage zu stellen, es war alles ein bisschen steif. 

Jirka: Aber gab es nicht auch Seminare?

Wolff: Ich habe parallel ja auch Musikwissenschaft an der TU studiert. Und das fand ich viel besser, weil der Seminarbetrieb auch Diskussionen angeregt hat.

Jirka: Sie haben mir einmal erzählt, dass der Tag Ihrer A-Prüfung für Berlin ein welthistorisches Ereignis war?

Wolff: Ja, das war so: Am 26. Juni 1963 fuhr J.F. Kennedy mit Willy Brandt im offenen Wagen ohne irgendwelchen Schutz an der Burg vorbei. Und wir hatten oben in der Burg am offenen Fenster den allerbesten Blick darauf.

Jirka: Das klingt wunderbar. Das erleben wir heute auch noch manchmal. Die „Burg“ ist ja eines der wenigen Gebäude, die den Zweiten Weltkrieg an diesem Standort überstanden haben.

Wolff: Es war ja ein sehr massives gebautes Gebäude. Da hätte man Atombomben drauf werfen können, das wäre nicht kaputt gegangen. Das Haus war aber in ziemlich schlechtem Zustand, die Räumlichkeiten, die Ausstattung, die Stühle… das war alles reif für den Sperrmüll.

Jirka: Ich habe aber gehört, dass es in Westberlin eine unglaubliche Zahl von A-Stellen gab, ich habe in Erinnerung, dass es über 80 Stellen waren. Und dass viel Geld in Westberlin investiert wurde.

Wolff: Herr Jirka, dass stimmt, man hat Westberlin natürlich künstlich hochgepeppt und ausgestattet. Wir hatten auch relativ viele Vorteile, wir mussten zwar Studiengebühren bezahlen, aber die waren sehr niedrig.

Jirka: Ich möchte den Blick gern noch auf die Zukunft richten. Wie schätzen Sie die Situation der Kirche und der Kirchenmusik insgesamt heute ein? 

Wolff: Die Situation der Kirchenmusik, überhaupt die Situation der Kirche, ist eine sehr schwierige heute. Ich denke, dass man immer noch viel aus der Tradition lernen kann. Aber das Wichtigste scheint mir, die Tradition  mit unserer Zeit zu verbinden. Oft sind diese Bereiche aber völlig getrennt. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Aribert Reimann gehört zu den Komponisten von Weltrang, die heute in Berlin leben. Er ist der Sohn des Berliner Domorganisten Wolfgang Reimann, der auch am Institut gelehrt hat. Aber die Kirchenmusik spielt im Werk von Aribert Reimann gar keine Rolle. Ich glaube, das hat auch damit zu tun, dass sich die Kirchenmusik so sehr der Popularmusik verschrieben hat. Es scheint mir wichtig, die wirkliche Kunst in die Kirche zu bringen und der Kunst in der Kirche eine Heimat zu schaffen. Das geschieht aber heute sehr selten. Wir müssen darauf hoffen, dass das wieder mehr passiert.

Jirka: Haben Sie damals als Studierender von dem Kulturleben Berlins außerhalb der Hochschule viel wahrgenommen?

Wolff: Ja, wir haben es sehr genossen, nicht so weit vom Schillertheater und vom Renaissance-Theater entfernt zu sein. Und am Schiffbauerdamm war ja damals das Berliner Ensemble noch ein Brecht-Theater, da sind wir am Anfang auch hingegangen. Man konnte in Berlin viel mehr machen als in den meisten deutschen Städten. Und wir hatten auch keinen prall gefüllten Stundenplan, so dass genug Zeit blieb für Konzerte, Theater, Kino und Lieblingskneipen. Wir hatten eine sehr schöne Zeit im Studium. Ich bedauere sehr, dass die Studenten heute durch die Pandemie so eingeschränkt sind.

Jirka: Ich hoffe sehr, dass diese Situation für unsere Studierenden bald vorbeigeht. Vielleicht kann unser kleines Jubiläum - 200 Jahre Institut für Kirchenmusik - neue Impulse für die Kirchenmusik geben.

Wolff: Das ist eine tolle Sache, dass Sie das Jubiläum feiern und dabei in die Zukunft schauen. Wenn überhaupt, dann müssten Impulse für die Kirchenmusik der Zukunft von Berlin ausgehen. Das Institut liegt ja gut. Und die Universität der Künste strahlt über die Stadt hinaus auf die Kunstwelt aus.

Jirka: Herr Wolff, ich danke Ihnen für Ihre Zeit.

Wolff: Herr Jirka, dass habe ich gerne getan. Die Berliner Zeit war für mich eine Schlüsselzeit. Ich habe damals viele Dinge für mein Leben gelernt, politische Wachsamkeit und künstlerische Aufgeschlossenheit. Und ich hoffe, das heutige Studenten ähnliche Erfahrungen machen werden.

Jirka: Das ist doch ein wunderbares Schlusswort, herzlichen Dank!

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